
Ich war ein neugieriges Kind. Ich war aber auch ein stures und vor allem trotziges Kind. Die Kombination aus diesen Eigenschaften brachte mich in meinem damals jungen Leben regelmäßig in große Schwierigkeiten. Wenn mich etwas interessiert hat, konnte mich nichts davon abhalten, es mir genauer anzusehen. So hatte ich schon in frühen Jahren mehr Kontakt mit Flammen, Gewässern und bissigen Hunden, als es meinen Eltern wohl recht war. Und deshalb kam irgendwann der Punkt, als ich an die Leine genommen werden musste.
Natürlich hat die Welt eine Meinung zu Leinenkindern. Viele Psychologen behaupten, man stelle das Kind durch die Leine bloß. Dadurch können langfristig psychische Schäden entstehen. Andere Gegner von Kinderleinen sehen darin eine Ausrede für Eltern, unaufmerksam zu sein. Wer das Kind sicher an der Leine weiß, hat demnach Zeit für WhatsApp und Co.
Als ehemaliges Leinenkind kann ich über solche Vorwürfe nur Lachen. Psychische Schäden? Fehlanzeige. Ich bin zwar kein Experte, aber meine Gemütsverfassung würde ich als ziemlich „normal“ beschreiben. Tatsächlich habe ich gar keine Erinnerungen mehr daran, ein Leinenkind gewesen zu sein. Erst als ich als Teenager mit meinen Eltern meine Babyfotos durchgesehen habe, erfuhr ich, dass ich als Kleinkind eine Sicherheitsleine hatte. Und weil ich ganz genau wusste, was meine Eltern mit mir als Kind durchgemacht haben, lachten wir darüber und blätterten weiter.
Auch Unachtsamkeit kann ich meinen Eltern nicht vorwerfen. Als Kind war ich getrieben von einem unglaublichen Entdeckersinn gepaart mit einer gehörigen Portion Trotz. „Bleib hier, Markus!“ – weg war ich. „Spring nicht ins tiefe Wasser“ – Kopfsprung. „Vorsicht vor der Flamme“ – schon hatte ich mir die Hand verbrannt. Was ich damit sagen will: meine Eltern konnten es damals nicht mit mir aufnehmen. Ich war ein Terrorist, mit mir konnte man nicht verhandeln. Dass sie mich deshalb an die Leine genommen haben empfinde ich aber nicht als Strafe. Die Leine war für mich eine Art Zwangsjacke, die mich vor mir selbst schützte. Schutz, den ich als Kleinkind dringend nötig hatte. Denn es ist doch einfach so: Als Kinder konnten wir Gefahren nicht einschätzen, waren furchtlos und an allem interessiert. Haben Regeln gebrochen und unsere Grenzen ausgetestet. Und weil ich als kleiner Dreikäsehoch die Anweisungen meiner Eltern ganz besonders gerne missachtet habe, kann ich die Notwendigkeit für die Leine durchaus nachvollziehen.
Deshalb ärgert es mich auch so, wenn dieses Thema ständig diskutiert wird und Eltern, die ihre Kinder an die Leine nehmen, angeprangert werden. Fakt ist: ich bin heute erwachsen und es geht mir gut. Trotz Leine. Ob es ohne Leine auch dazu gekommen wäre, ist eine andere Frage. Eltern entscheiden sich aus den verschiedensten Gründen für die Leine. Doch am wichtigsten ist ihnen stets das Wohl ihres Kindes. Und mein Wohl habe ich in vielerlei Hinsicht meiner Kinderleine zu verdanken.
Mehr zum Thema Familie & Co.:
Bin ich eine Jungs- oder eine Mädchenmama
Schwangerschaftskalender: Die 40 Schwangerschaftswochen im Überblick