
Februar 2008: Nojoud winkt ihren Geschwistern zu. Wirft einen Blick auf den Garten ihrer Eltern, wo sie gestern noch gespielt hat. Dann steigt die Zehnjährige zu dem Mann ins Auto, der jetzt ihr Ehemann ist. Der versprochen hat, sie nicht anzurühren. Nicht bevor sie zum ersten Mal ihre Periode haben würde.
Noch in derselben Nacht, in ihrem neuen Zuhause, poltert er in ihr Zimmer. Er stinkt nach Zigaretten, betatscht ihren Körper mit seinen rauen Händen. "Lassen Sie mich in Ruhe", fleht Nojoud. "Du bist meine Frau. Wir schlafen in einem Bett", schreit er. Sie versucht zu fliehen. Er schlägt sie zu Boden, zieht sich seine weiße Tunika aus. Sie weint "Hilfe, Hilfe!" Dann spürt sie ein Brennen. Es tut weh. Sehr. "Aua", schreit sie. Dann wird sie ohnmächtig.
Eine Kindheit, die zur Qual wird. Experten schätzen, dass mehr als 50 Prozent der Mädchen zwischen sieben und neun Jahren im Jemen zwangsverheiratet werden. Armut, fehlende Bildung und die von Männern dominierte Kultur tragen dazu bei. Gesetzlich ist eine solche Heirat erst im Alter von 15 erlaubt. Doch es gibt eine Klausel, die private Absprachen billigt. Die nutzt Nojouds Vater. Auch er ist arm. Hat 16 Kinder, zwei Ehefrauen und keinen Job.
Er verkauft seine Tochter für 150.000 Rial (ca. 600 Euro, das sind etwa zwölf Monatsgehälter im Jemen). Aber seine Tochter überrascht alle. Denn nach zwei Monaten Ehe voller Folter lässt sie sich scheiden. Ein unvorstellbarer Vorgang im Jemen. Grund genug, ein Buch über die Zehnjährige zu verfassen: "Nojoud Ali" (Knaur, um 15 Euro). Journalistin Delphine Minoui verbrachte dafür zwei Wochen mit der kleinen Nojoud. "Sie hat das Land verändert", sagt Minoui.
"Das Mindestheiratsalter wurde jetzt auf 17 Jahre hochgesetzt, Absprachen zwischen Vater und Bräutigam müssen von einem Richter abgesegnet werden. Nojoud ist für alle jungen Frauen im Jemen das Symbol der Hoffnung." Die heute Elfjährige erhielt deshalb auch in New York den "Woman of the Year Award", den schon Nicole Kidman und Hillary Clinton bekamen, und man verlieh ihr den "World of Hope"-Preis. Doch was musste die Elfjährige ertragen? Kann sie je wieder das Mädchen sein, das sie mal war?

Nojoud Ali - die beiden sind seitdem Freundinnen
"Schlag Sie härter, Härter!"
Nojouds Schwiegermutter ist ihr zweiter ärgster Feind. Sie ermuntert ihren Sohn, die Ehefrau zu züchtigen, wann immer er will. Nojoud darf nicht spielen. Nicht in die Schule. Darf nicht Nein sagen. Sich nicht beklagen.
Aber sie muss Geschirr spülen, die Hühner füttern, den Boden wischen. Und wenn es dunkel wird, weiß sie, dass das "Monster", so nennt sie ihren Mann Faez Ali Thamer, kommt und ihr wehtut. "Ich war in einer Falle. Wieso hat mich niemand gewarnt?", sagt sie später. "Jetzt verstand ich den Begriff 'Grausamkeit'."
Ein kleines Mädchen wagt das Unmögliche
Nojoud erkämpft sich einige Tage Besuch bei ihrer Familie. Sie erzählt von den Grausamkeiten, will nicht mehr zurück. "Du musst bei deinem Mann bleiben", herrscht ihr Vater sie an. "Das ist eine Frage der Ehre." Nojoud erzählt auch Dowla, der zweiten Ehefrau ihres Vaters, von den Grausamkeiten.
"Sie flüsterte mir zu: 'Geh zum Gericht. Es ist der einzige Ort, an dem man dich anhören wird.' Von diesem Moment an wurde alles viel klarer in meinem Kopf."
Dowla drückt ihr 200 Rial (knapp 1 Euro) in die Hand. Als Nojoud am nächsten Tag zum Bäcker geht, ändert sie in letzter Minute die Richtung. Mit Bus und Taxi ist die Zehnjährige noch nie zuvor gefahren. Aber an diesem Tag tut sie es. Und fährt zum Gericht. "Woher hattest du den Mut?", wird sie später gefragt. Ihre Antwort: "Mut? Ich konnte einfach nicht mehr."

Nojoud und ihre Anwältin Shada Nasser
(Bild: Getty Images)
Nojouds Scheidung
Die Zehnjährige betritt voller Angst das Gerichtsgebäude. Fühlt sich unsichtbar. "Immer vorwärts", ermutigt sie sich selbst. Nach langem Herumfragen wird sie zu einem Richter geführt, der von ihrer Geschichte, die sie verschämt, aber ohne Tränen erzählt, schockiert ist.
Richter Abdo verspricht: "Ich werde dir helfen." Nojoud fällt ein Stein vom Herzen. Sie kommt für ein paar Tage bei Abdos Kollege Wahed unter. "Du bist außergewöhnlich mutig", sagt der zu ihr. Dieser Meinung ist auch Anwältin Shada Nasser. Die erste weibliche Juristin Jemens kämpft für die Rechte der Frauen und übernimmt Nojouds Fall ohne Honorar.
"Jemenitische Frauen haben sehr wenige Rechte, und die kennen sie nicht", sagt sie – und setzt alle Hebel in Bewegung, alarmiert die Medien. Am 15. April ist es so weit. Die Verhandlung beginnt unter Blitzlichtgewitter. Auch Vater Ali ist angeklagt. Nojoud hat ein schlechtes Gewissen. Sie sieht seinen gequälten Blick. "Ich hatte Angst, dass er mir sein ganzes Leben nicht verzeihen wird", sagt Nojoud.
Aber sie reißt sich zusammen. Das "Monster" zischt Shada Nasser an: "Sie sind wohl stolz, wie?" Die Anwältin schaut ihn nur an und sagt zu Nojoud "Hör gar nicht hin." Als die Verhandlung beginnt, spielen sich böse Szenen ab. Nojouds Ehemann leugnet, dass er sie geschlagen und vergewaltigt hat, ihr Vater behauptet, sie sei 13. Beide wollen verhindern, dass die Scheidung vollzogen wird, die Familien der Schande ausgesetzt sind und der Handel rückgängig gemacht wird.
"Das stimmt alles nicht", entfährt es Nojoud laut. Und sie hat Glück. Der Richter ist progressiv und Nojoud wird geschieden. Allerdings gehen ihr Vater und ihr Exmann ohne Strafe aus. Und Nojouds Familie muss 50.000 Rial (ca. 200 Euro) an Faez Ali Thamer zahlen, ein Teil des Brautgeldes, das Nojouds Vater seinerzeit mit der Hochzeit der Tochter verdient hatte.
Wieder Kind
Nojoud lebt heute bei ihren Eltern. Und ist glücklich. Auch wenn die Nachbarn über den von ihr ausgelösten Eklat lästern. Auch wenn der Vater sie nicht mehr in die Schule lässt: Sie soll immer zu Hause sein, um für Interviews zur Verfügung zu stehen, mit denen er jetzt sein Geld verdient. Aber sie kann wieder mit den Geschwistern im Garten spielen. Und Nojoud hat noch Träume: "Ich will Anwältin werden", sagt sie. Und lächelt.
Heike Gerhard