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Jolie-Kolumnistin Birte Plöger hat ihr altes Leben hingeschmissen und freundet sich - zwischen Massenbesichtigungen, Misosuppen-Bestellungen und dem Eier-Lieferservice - mit dem Neuen an.
Ich komme gerade von einer Wohnungsbesichtigung. Nein, stimmt nicht: Die Wohnung habe ich gar nicht besichtigt, weil ich abgehauen bin, als ich die Schlange an Mitbewerbern sah. Die Bude – 1 000 Euro kalt – lag verkehrsgünstig, das heißt: In wenigen Metern Entfernung donnerte die S-Bahn vorbei. Ich stieg ins Auto. Ich kämpfte mich durch den Feierabendverkehr. Mitten auf dem Winterhuder Marktplatz kam Rauch aus meiner Kühlerhaube. Ich parkte am Straßenrand und blickte durch die Nebelschwaden. Ich vertrieb mir die Zeit, bis der ADAC kam, mit ein bisschen Weinen. Die Wahrheit über Veränderungen: Sie treten dir kräftig in den Arsch.
Warum genau, fragte ich mich, wollte ich noch mal nach Hamburg ziehen, habe dementsprechend meine großartige Wohnung in Bayern gekündigt und meinen super Job hingeschmissen? Vielleicht deshalb: Mein Ex-Zuhause war überteuert. Ich verbrachte als Berufspendlerin in den letzten zwei Jahren 736 Stunden in Zügen der Deutschen Bahn. Ich hätte stattdessen auch einen Monat Urlaub machen können. Ich bewegte mich meistens im Laufschritt zwischen Wohnung, Kindergarten, Bahnhof. Ich verspürte oft das Bedürfnis, mich unter dem Schreibtisch einzurollen und zu schlafen. Ich hatte ständig das Gefühl, am falschen Ort zu leben. Die Wahrheit über Veränderungen: Früher war angeblich alles besser.
Nach drei Stunden konnte ich mich auf den Heimweg zu meinem Zwischendomizil an der Ostsee machen. O. ist ein kleiner Ort mit 10 000 Einwohnern. Es gibt neun Supermärkte, die ich alle auf der Suche nach Misosuppe abklapperte (erfolglos, ein Reformhaus war schließlich so freundlich, sie zu bestellen). Ich wurde ausgelacht, als ich beim Meldeamt eine Nummer ziehen wollte: „Dat bruk wi hier nich.“ („Das brauchen wir hier nicht.“).
Hühnereier werden noch direkt an die Haustür geliefert, auch wenn man, wie ich, die Eierfrau aus alter städtischer Gewohnheit misstrauisch für eine Zeugin Jehovas hält. Außer Vorträgen wie „Uferschutz an Küsten und Wasserstraßen“ gibt es nicht besonders viel Entertainment, eine Theatertruppe verirrt sich nur in Schaltjahren hierher. Strandspaziergänge haben Shopping-Exzesse ersetzt, meine Ausgaben für Klamotten konnte ich so entsprechend um 90 Prozent senken. Das nächste Yogastudio ist 50 Kilometer entfernt – ich mache jetzt online Yoga. Die kleine Stadtbücherei, die ich noch aus meiner Kindheit kenne, hat mittlerweile einen Blog und eine Facebook-Seite (ich bin Follower Nr. 37). Plötzlich Zeit zu haben macht mich manchmal nervös, dann mähe ich den Rasen oder google Immobilien in diesem Landstrich ohne Rushhour: Die Häuserpreise hier be-ruhigen mich, weil sie keine Verschuldung bis über das Lebensende hinaus bedeuten. Wenn ich nichts zu tun habe, denke ich, dass ich dringend was zu tun bräuchte. Als ich noch viel zu tun hatte, dachte ich, dass ich dringend mal Ruhe bräuchte. Die Wahrheit über Veränderungen: Irgendwas ist immer.